»Für eine Absage der deutschen Olympia-Teilnahme«

»Für eine Absage der deutschen Olympia-Teilnahme«
Aufruf japanischer Intellektueller, 2.4.2021
Am Freitag, den 25. März, hat in Fukushima, der durch die Atomkatastrophe weltbekannt gewordenen Region in Japan, der olympische Fackellauf begonnen, mit viel Tamtam und Jubelgeschrei. Fukushima wird als Symbol des aus der dreifachen Katastrophe wieder auferstandenen Japan missbraucht. Denn auch jetzt noch sieht man überall in den Dörfern und Städten von Fukushima Ruinen und Elend, hie und da auch ein gut restauriertes Bahnhofsviertel. Die Route des Fackellaufs ist so gestaltet, dass auf der Mattscheibe in den Wohnungen nur die Schokoladenseite erscheint.

Bekanntlich wurde dieser Fackellauf 1936 zur Stimmungsmache für die Berliner Olympiade eingeführt. Die lästige Vergangenheit erfährt hier eine Transformation, die die Propaganda von einst nicht unbedingt ins Positive wendet. Während damals frei nach Walter Benjamin die Ästhetisierung der Politik erprobt wurde, wird heute über den Sport die Kommerzialisierung von Politik angestrebt. Dem jeweiligen Läufer, oft einem prominenten Schauspieler oder einer olympischen Medaillenträgerin, fährt ein Konvoi von 15 bis 20 übergroßen Bussen voran. An dem ersten großen Wagen mit Laufsprecher sieht man überall Coca-Cola-Werbung. Und auf dem Dach des Wagens verkündet ein Showmaster ohne Schutzmaske in voller Lautstärke den Beginn eines Jahrhundertereignisses. Diese Führungsposition ist für die nächsten Tagen auch den als exzellent eingestuften Sponsorfirmen Toyota, NTT und Nihon Seimei zugesichert (NTT ist das japanische Pendant zur Deutschen Telekom, Nihon Seimei ist eine gigantische Lebensversicherungsfirma). Nur diese vier Firmen genießen das Privileg dieser pole position.

Jedoch: In dieser Startzeremonie sind der Jubel und der Posaunenton irgendwie getrübt. Jeder spürt das. Dem Publikum, den Leuten, die an beiden Seiten der Straße stehen und mit ihren Smartphones knipsen, ist das Jubeln verboten, aus den bekannten Gründen. Viele Passanten winken mit der Hand, aber doch sichtbar halbherzig. Eigentlich sind mehr als zwei Drittel der Bürger in Japan – darin sind sich diverse Umfrageergebnisse einig – grundsätzlich gegen die olympische Veranstaltung in diesem Sommer. Darunter votiert etwa die Hälfte für eine nochmalige Aufschiebung, die andere Hälfte für die definitive Rückgabe des Veranstaltungsauftrags.

Wir sind mitten in der Pandemie. Einschlägige Fallzahlen aus den letzten Tagen zeigen mehr als deutlich: Uns steht unmittelbar die vierte Infektionswelle bevor und mit jeder neuen Welle wird die Woge höher. Trotzdem wollen die Regierung und das Sponsoren-Kapital (Coca-Cola und Co.), nicht zu vergessen die Medien, die Sommerolympiade gegen den gesunden Menschenverstand über die Bühne gehen lassen, komme, was es wolle.

Zwar haben sich die Stadt Tokyo, die japanische Regierung, IOC und IPC geeinigt, das Land gegen die Zuschauer aus dem Ausland zu sperren – zur großen Enttäuschung der Reiseindustrie. Aber es kommen doch die Spieler, ihre Coaches und Trainer, auch Sportfunktionäre und Presseleute. Die Gesamtzahl dieser Mitglieder der Sportwelt dürfte mehrere zigtausend betragen. Undenkbar, dass sämtliche Maßnahmen wie Quarantäne vor dem Reiseantritt, Test am Flughafen, Vorweisen eines Zertifikats von einem zu Hause durchgeführten Test die Infektionsgefahr auf Null reduzieren. Außerdem: In Japan sind gegenwärtig gerade einmal 0,8 Prozent der Bürger geimpft, hauptsächlich Mediziner, Pflegepersonal und der Ministerpräsident, der für den bevorstehenden Amerikabesuch gewappnet sein muss. Die europäischen und US-Amerikanischen Behörden behalten trotz klarer Vertragslage ihre Impfstoffe weitgehend für sich selbst. Man muss also die Wahrscheinlichkeit hoch einschätzen, dass ein, wenn auch noch so kleiner, Teil der sportlichen Besucher im Gastland die Viren einatmen und nach Hause bringen. Fazit: die Olympiade und Paraolympiade können zu einer weiteren Explosion der Infektion sowohl in Japan als auch weltweit beitragen. Die Olympiade und die Folgeveranstaltung für Körperbehinderte dürfen nicht stattfinden. Es geht ums nackte Leben, nicht ums nationale Prestige, und natürlich nicht um den ökonomischen Profit. Wir appellieren an die Vernunft der Sportbranche. Wir appellieren aber auch an die Öffentlichkeit der Besuchernation, konkret mit diesem Artikel, an die deutschsprachige Öffentlichkeit: Kommen Sie bitte nicht nach Japan!

Wenn sich eine der durch ihre bisherigen sportlichen Leistungen ausgewiesenen Nationen dazu aufraffen könnte, angesichts der Pandemie-Situation ihre olympische Mannschaft zu Hause zu lassen, würde diese Nicht-Entsendung eine Kettenreaktion unter den teilnehmenden Nationen auslösen, so dass JOC, IOC, IPC und die Stadt Tokyo nicht nur zum Nachgeben gezwungen würden, sondern einsähen, dass die olympischen und die paraolympischen Spiele – so schmerzhaft das für alle Sportler auch ist – zumindest diesmal abgesagt werden müssen.

Tokyo, den 2. April 2021

Unterzeichnet von:

Kiyoshi Abe (Medientheoretiker), Takaho Andô (Ideengeschichtler), Hiroyuki Arai (Kultursoziologe), Satoko Itani (Genderforscherin), Nami Ôkubo (Meeresbiologin), Motoi Hatsumi (Germanist), Takashi Kawamoto (Sozialphilosoph), Kenichi Mishima (Sozialphilosoph), Mari Miura (Politologin), Asaho Mizushima (Verfassungsrechtler), Kazue Muta (Soziologin), Kôichi Nakano (Politologe), Toshio Nakano (Soziologe), Osamu Nishitani (Ideengeschichtler), Hiroki Ogasawara (Kulturwissenschaftler), Atsuko Onuki (Germanistin), Manabu Satô (Erziehungswissenschaftler), Atsuko Tamada (Romanistin), Yôko Tawada (Schriftstellerin, Trägerin des Kleist-Preises), Satoshi Ugai (Romanist).

Quelle:https://www.blaetter.de/dokumente/fuer-eine-absage-der-deutschen-olympia-teilnahme